Das ungesehene ICH

Ich selbst hatte oder habe ein solch ungesehenes ICH! Was meine ich damit. Ich, in meiner Existenz, erfahre mich als im Innen fühlend (INNERES ICH) und im Außen agierend (ÄUSSERES ICH). Und es geht uns Menschen, meiner Ansicht nach, nur dann gut- wir können nur dann überhaupt glücklich werden – wenn unsere beiden ICHs im Einklang sind. EINKLANG entsteht, wenn das ÄUSSERE ICH so agiert, dass das INNERE ICH in seiner wahren Natur – so wie es ist – im Außen, von der Umwelt, wahrgenommen und angenommen wird, und im besten Fall sogar geliebt!

Das ÄUSSERE agiert FÜR das INNERE ICH – es ist gedacht als sein Erfüllungsgehilfe, seine Äußerungsform in der Welt.

Es ist für alles, was für unser PHYSISCHES ÜBERLEBEN notwendig ist, zuständig. Es will ernährt sein, es will warme Füße, keine Not leiden. Es will berührt werden. Es interagiert physisch wahrnehmbar mit dem Außen und ist von ihm abhängig. Es ist auf das Wohlwollen der es umgebenden sozialen Gruppen angewiesen, weil seine physische Existenz und sein materielles Fortkommen davon abhängen. Es bildet sich durch Abschauen, Erziehung, durch die Reaktion auf Situationen und Gegebenheiten, durch gute und schlechte Erfahrungen mit unserer Umwelt, es spürt Druck, hat Stress und fühlt Schmerzen. Und sein Zuständigkeitsbereich wächst mit den Lebensjahren.

Aber das INNERE ICH ist zuerst da! Es ist unser ICH wenn wir geboren werden. Unsere wahre Natur, pure gelebte Intuition und Emotion, unverdorben, unberührt, vertrauensvoll, echt und ehrlich, optimistisch und voller Mut. Wenn wir sehr klein sind, sind das Innen und Außen noch eins! Wir sind das was wir lieben und werden geliebt, wir zeigen das was wir nicht mögen mit unserem ganzen Körper und durch unsere Handlung, selbst wenn diese nur aus einem lauten Schrei besteht. Es ist aber auch sehr verletzbar. Es ist der ungeschützte „weiche Kern“, auf der Suche nach Sicherheit und Konstanz, Vertrauen, Nähe, Liebe und Wertschätzung. 

Bei mir fühlte es sich mein ganzes bisheriges Leben (bis auf weniges Ausnahmen) so an, als würden die Menschen um mich herum, mein INNERES ICH überhaupt nicht wahrnehmen. Es fühlte sich sogar so an, als sei dieses INNERE ICH gar nicht mehr wirklich da. Ich war nur noch eine im Außen agierende Hülle mit einem Gespenst im Inneren, das sich nur dann mal kurz zeigt, wenn DAS ÄUSSERE ICH traurig, wütend oder betrunken, eben irgendwie abgelenkt ist, und/oder wenn man vom Leben durch irgend einen äußeren Umstand zwangsweise völlig auf sich selbst zurückgeworfen wurde. Dann hört man kurz diese leise Stimme, man fühlt dieses vertraute Gefühl, das einen in eine ganz andere, und dennoch vertraute Richtung zieht, aber von dem man nicht mehr weiß wo es her kommt, ein kurzer Stich im Herzen der sagt: „ICH bin noch da! Es gibt MICH noch!“.

Dabei ist mein ÄUSSERES ICH eigentlich ein mitteilsamer und eher extrovertierter Charakter. Es kann gut argumentieren und sich auch durchsetzen. Es ist recht schlagfertig und nicht auf den Kopf gefallen. Es kann Menschen begeistern, mitreißen und überzeugen. Aber diesen eingangs beschriebenen EINKLANG dieser beiden ICHs, den gab es bei mir nicht!

Und wenn das so ist, werden wir krank! Ich zumindest wurde es!

Genau hier lag bei mir die Crux: Mein ÄUSSERES ICH war nämlich dafür verantwortlich, dass mein INNERES ICH ungelebt und somit UNGESEHEN blieb! Es hat irgendwann einfach die Führung übernommen, obwohl das eigentlich gar nicht seine Aufgabe war.

Im Optimalfall wird unser ÄUSSERES ICH so behandelt, wie es unserem INNEREM ICH gut tut – eben unserer wahren Natur entsprechend, weil die uns umgebenden Menschen unser wahres ICH wahrnehmen, akzeptieren und bestenfalls sogar lieben! Dieser Optimalfall ist aber recht selten! Daher ist das ÄUSSERE ICH gezwungen, neben seiner eigentlich angestammten Aufgabe, seinen Zuständigkeitsbereich stetig zu erweitern, um das INNERE ICH vor weiteren Verletzungen zu schützen. Mit jedem Rückschlag, den das ÄUSSERE ICH einstecken muss, weil es so agiert hat wie es das INNERE ICH wollte oder brauchte, entwickelt es seine eigene, sich vom INNEREN ICH immer weiter entfernende Natur, entwickelt seine eigenen, weniger schmerzhaften Wünsche, und es folgt immer mehr seiner eigenen Definition von Glück. Geld und Konsum machen es glücklich. Macht und Status machen es glücklich. Ruhm und Schönheit machen es glücklich. Es glaubt, es besser zu wissen, übernimmt nach und nach die Führung und beginnt, das INNERE ICH immer mehr in Frage zu stellen. Es hört weg, entwickelt in vielen Fällen sogar eine Antipathie gegen sich selbst oder schämt sich, weil es Zeiten gab, in denen es auf das INNERE ICH gehört hat, an denen sie noch das gleiche Ziel hatten und jeder von ihnen seine Aufgabe. So wird das INNERE ICH nach und nach zu einer Erinnerung, zu einem Geist, zu einem nostalgischen Gefühl, zu einem Stechen im Herzen oder im Magen. Aber immer nur ganz kurz!

Und irgendwann ist da dann nur noch dieses ÄUSSERE ICH, nur eine Oberfläche, auf der man liebt und fühlt, hofft, träumt und wünscht.

Und das, obwohl das Lieben, Fühlen, Träumen, Hoffen und Wünschen doch eigentlich die Aufgabe des INNEREN ICHs ist! Denn nur das INNERE ICH – das echte zu einem gehörende Gefühl, die wirklichen Wünsche und Träume, das was/wie man eigentlich ist, das was man wirklich fühlt, denkt, wie man sich wirklich selbst wahrnimmt und erfährt – ist der richtige Impulsgeber, die Intuition der man folgen sollte.

Leider habe ich das erst sehr spät in meinem Leben verstanden. Nicht zu spät, aber spät. Ich habe mein INNERES ICH mit meinem ÄUSSEREN um Einiges „betrogen“. Ich habe ganz bewusst aus Angst weggeschaut oder es verleugnet. Ich habe es weggesperrt oder es für naiv und minderwertig gehalten, mit seinen Wünschen und Träumen, die viel zu groß waren und viel zu perfekt! Es gab Zeiten, da hasste ich es für alles, was es ist und war. Am Ende war mir schon bei der jeweiligen Handlung meines ÄUSSEREN ICHs ganz genau bewusst, dass das mein INNERES ICH verletzen wird oder verleugnet. Das ging sehr viele Jahre so.

Ich habe mich auf einen Weg in die falsche Richtung gemacht. Einen Weg, an dessen Ende Taubheit, Depression und Krankheit auf mich warteten. Ich wusste nicht, dass es an diesem nicht vorhandenen EINKLANG meiner ICHs lag, warum ich nichts mehr mit Freude geniessen konnte, dass ich Angst hatte mich zu verlieben, zu vertrauen, das ich nicht mehr in der Lage war zu träumen, oder auf Erfüllung zu hoffen.

Ich habe geglaubt, dass ich nur eine tragfähige Basis unter mein Sein bekomme, dass ich mich selbst nur dann ernst und wichtig nehmen kann, wenn ich von jemandem als die Person die ich im Außen war, geliebt, gesehen oder angenommen wurde. Ich habe jemanden im Außen gesucht, der mir sagt, dass ich gut und richtig bin.

Ich habe jemanden gebraucht, der mir die Erlaubnis gibt, so zu sein wie ich wirklich bin.

Denn wenn man das INNERE ICH nicht mehr hören kann, dann hört man auf, mutig zu sein. Man bekommt Zweifel an der eigenen Berechtigung, an der Richtigkeit der eigenen Gedanken und Gefühle in seinem tiefsten Inneren. Man wird zerfressen von diesen ungehörten Hoffnungen und Sehnsüchten. Und dann ist da nur noch bodenlose Verunsicherung. Und schon übernimmt es wieder, das ÄUSSERE ICH! Es kompensiert, flüchtet, es lügt, es verleugnet, verletzt, es schaut weg und es vergisst! Und es hört nicht mehr darauf, was das INNERE sagt.

Und das, obwohl es doch seine Aufgabe ist, dem EMPFINDEN und SEIN des INNEREN ICHs eine ÄUSSERE FORM zu geben, damit wir von der Umwelt überhaupt erst als die Person wahrgenommen, angenommen oder bestenfalls sogar geliebt werden können, die wir wirklich sind! Es ist die Aufgabe des ÄUSSEREN ICHs, dass das INNERE ICH nich UNGESEHEN bleibt. Denn das INNERE ICH war zuerst da! Und es ist das, was und wie wir wirklich sind, was wir wirklich wollen und fühlen, was wir uns wirklich wünschen, wovon wir wirklich träumen. Und auch nur DAS kann uns wirklich glücklich machen!

Die Gründe, warum man aufhört, auf das INNERE ICH zu hören, sind bei jedem so unterschiedlich, wie wir Menschen unterschiedlich sind.

Bei mir war es die Angst meines INNEREN ICHs vor erneutem VERLUST, die Angst vor erneuter ABLEHNUNG und ZURÜCKWEISUNG. Mein ÄUSSERES ICH übernahm irgendwann die Regie und ergriff Gegenmaßnahmen gegen diese Angst. Es fing an, alles zu tun, um diese für mein INNERES ICH so negativen und schrecklichen Konsequenzen zu vermeiden.

Ich habe zum Beispiel irgendwann aufgehört, mein inneres NEIN zu äußern und habe mich ergeben in ein vermeintlich „altruistisches“, äußeres JA, von dem ich mir versprochen hatte, dass mich dadurch der andere als gut, selbstlos und liebenswert wahrnimmt. Denn gute, selbstlose und liebenswerte Menschen werden nicht weggestoßen oder verlassen. Irgendwann fing es dann an, dass ich – gesteuert von dieser alles überschattenden Angst – wirklich daran geglaubt habe, dass mein INNERES NEIN zu äußern dazu führen würde, dass man mich ablehnt oder wieder verlässt. Ich hatte den Kontakt zu meinem inneren Kompass – zu MIR SELBST – verloren, als ich aufgehört habe, auf mein INNERES ICH zu hören. Und weil es das Falsche war, habe ich mich die ganze Zeit immer irgendwie unwohl gefühlt, aber wusste nicht warum. Wenn man den Kontakt zu seinem INNEREN ICH verliert, verliert man den Kontakt zu seinem wahren Gefühl, zu dem wer man wirklich ist, zur richtigen Intuition. Man verliert den Kontakt zu den Dingen, die einen glücklich machen! Man vergisst sie und ersetzt sie im außen auf der Oberfläche durch andere. Aber es bleibt immer auf der Oberfläche. Nichts dringt ins Innere vor, dahin wo die Freude, die Liebe, das Vertrauen, die Hoffnung, die Wünsche und die Träume sind. Man fühlt das INNERE ICH immer weniger, man verliert es immer mehr aus den Augen, man vergisst es immer mehr. Und irgendwann fühlt es sich so an, als sei man innerlich völlig leer.

Man resigniert, man ergibt sich völlig in äußeres Tun und lässt sich von seiner Angst und vom ÄUSSEREN ICH blind durchs Leben treiben, immer dessen Vorstellung von Glück hinterher. Und man versteht nicht, warum es sich wieder nicht einstellt oder warum es schon wieder nicht bleibt, dieses warme Gefühl im Herzen. Man versteht nicht, warum man schon wieder nicht sein Glück gefunden hat.

Und hin und wieder taucht man dann ab in den Traum, wie es gewesen wäre wenn, wie es sein könnte wenn.

Man versinkt in seinem INNEREN ICH wie in einer Erinnerung. Es ist wie ein Eintauchen in die perfekte Vorstellung des Selbst – im Innen und Außen. Man sieht sich das Richtige tun, man hört sich das Richtige sagen, an den wichtigen Stationen des bereits gelebten Lebens. Und man nascht kurz an der ganz eigenen Idee von Glück. Und obwohl es nur ein Traum ist, fühlt es sich gut und richtig an. Einfach nur, weil man in diesem Moment einfach ganz kurz komplett man selbst ist. Bis einen das AUSSEN wieder auf dem falschen Weg weiter jagt.

Bei mir ging diese Jagt recht lange. Mein ÄUSSERES ICH hatte Ausdauer und war bereit zu Kampf, Verzicht und Entbehrung, um irgendwann an das vermeintlich ersehnte Ziel zu gelangen, auf meinem „Weg zum Glück“. Aber der Eindruck, irgendwie falsch zu sein, nicht genug zu sein, nicht glücklich zu sein, nicht anzukommen, nicht zu wissen wer man ist, was man will…, der blieb.

Irgendwann gingen meinem ÄUSSEREN ICH die Ideen aus. Das war der Moment, an dem ich völlig auf mich selbst zurück geworfen wurde! Mein INNERES ICH brach sich immer öfter unkontrolliert Bahn. Und weil es im Außen nichts mehr gab was mir half, fing ich an, im Innen zu suchen. Nach den Dingen, die ich auf dem falschen Weg und auf der Jagt in die falsche Richtung zurückgelassen oder verpasst hatte. Es war und ist fast unerträglich zu erkennen, wie sehr man sich im Außen verbogen oder verleugnet hat oder es sogar aktuell noch tut, und wie sehr man sich damit eigentlich die ganze Zeit selbst verletzt, zerstört und am Ende vergisst.

Ich bin ein paar mal ziemlich hart aufgeschlagen. Und rückwirkend erzählt, macht für mich alles Sinn und es wirkt so, als wäre der Weg zur Lösung ganz einfach. Ich sage ganz ehrlich: Das war und ist er nicht! Aber seitdem ich wieder hinhöre, zieht es mich immer weiter hin zu meinem inneren Ich – HIN ZU MIR. Hin zu dem was sich für mich gut anfühlt. Hin zu dem was mich glücklich machen kann. Und mit jedem Mal, wenn es mein ÄUSSERES ICH schafft, das zu sagen oder zu tun, was das INNERE fühlt oder sich wünscht, jedes Mal wenn es für das Innere einsteht, sich mit ihm identifiziert und es als einen zwar verletzlichen, aber guten Teil von sich selbst begreift, wird man nach und nach wieder zu dem Menschen, der man eigentlich ist. Im INNEN und AUSSEN gleich! Auf diesem Weg befinde ich mich gerade!

Ich versuche immer öfter wieder der Mensch, der ich im INNEN wirklich bin auch im AUSSEN zu sein, um dann irgendwann – nicht mehr UNGESEHEN – von meiner Umwelt so wahrgenommen, so angenommen und im besten Fall sogar so geliebt zu werden, wie ich wirklich bin! Nur dann habe ich doch überhaupt eine Chance auf Glück, oder?

Und mit jedem Mal fühlt sich mein ungesehenes ICH ein bisschen weniger UNGESEHEN.

Bis wieder.
Bis bald.

posted by
Die Nachdenkerin