Die Welt ist voller „gut getarnter Egoisten“

In meiner Wahrnehmung, besteht unsere Gesellschaft fast nur noch aus „gut getarnten“ Egoisten! Die Menschen sind aus voller Überzeugung blind gegenüber anderen Menschen, gegenüber deren Ängsten, deren Gefühlen, gegenüber deren Wünschen! Es scheint jedem von uns zu aller erst mal wichtig zu sein, dass die eigenen Bedürfnisse in möglichst großem Umfang oder sogar ganz erfüllt sind oder werden – erst dann kommt der ganze andere Rest! Und die Psychologieratgeber sagen es uns ja auch: „Erst kommst Du! Schaue erst mal nach dem was du willst. Du kannst dich nur selbst glücklich machen! Sei zu aller erst mal gut zu dir selbst!“

Aber handelt ein Mensch – der das soziale Gefüge und andere Menschen ja doch nachweislich zum Überleben braucht – denn wirklich richtig, wenn zu allererst immer nur sich selbst vornan stellt, immer zuerst „an sich selbst“ und nicht „an sich selbst als Teil des „Gesamtgefüges“ denkt? 

Ist dieses selbstverständliche Vornanstellen des persönlichen Willens denn wirklich immer wichtiger, und vor allem richtiger? Sind wir als Einzelner wirklich so wichtig?

Ist immer nur das eigene Gefühl wichtig? Oder ist das gemeinsame Gefühl am Ende doch wichtiger?

Wenn ich merke, dass mein persönlicher Wille irgendeine Entwicklung im Ganzen stört oder sogar unmöglich macht, wäre es dann eigentlich nicht natürlich, dass ich mich damit irgendwie unwohl fühle, ihn dann trotzdem voranzustellen – zur Not auch auf Kosten eines anderen? Klar, wenn es dabei um mein eigenes Überleben oder das eines meiner Liebsten geht, um meine Existenz, um meine Gesundheit, um meine Würde! Ich denke, dass nennt man dann gesunden Egoismus!

Aber sind wir ehrlich: ums Überleben geht doch eher seltener in unseren täglichen Leben! Meist geht es bei dem, was wir ganz persönlich wollen, doch in Wirklichkeit nur um unsere ganz persönlichen, kleinen Befindlichkeiten, und darum, es in jeder Situation möglichst schön, einfach und bequem zu haben, oder darum, unserer zwischenmenschlichen (und manchmal auch moralischen) Verantwortung aus dem Weg zu gehen, oder vielleicht darum, mit möglichst wenig Einsatz das zu bekommen, was wir wollen. Ist doch alles halb so wild, oder? Macht doch jeder so!

Aber was, wenn diese Entscheidung, wenn das was wir persönlich allem voranstellen, anderen schadet, anderen wehtut, wenn man damit andere belügt oder sie damit materiell oder emotional ausnutzt?

Wer oder was bin ich, wenn es mein Wille ist, meinen Willen nicht zu hinterfragen? Gott?

Nein. Das wäre sicher übertrieben! Aber ich stelle immer wieder fest, dass Menschen die sich so in unserer Gesellschaft verhalten, als konsequent, als nahe bei sich, selbstständig, unabhängig, zielstrebig oder frei wahrgenommen werden, aber nicht als die „gut getarnten Egoisten“, die sie eigentlich sind!

Mir persönlich sind Menschen, die offen zugeben dass sie Egoisten sind, sympathischer als die getarnten. Sie sind sich und anderen gegenüber ehrlich und nehmen mit ihrer Offenheit in Kauf, unter Umständen auch die Konsequenzen für ihre rein auf sie selbst und auf den eigenen Vorteil bezogenen Entscheidungen zu tragen – teilweise bis hin zur sozialen Isolation!

Die meisten von uns sind aber „gut getarnte“ Egoisten, die ihren ganz persönlichen Willen – und sei er noch so unpassend oder kleingeistig – hinter persönlichem Stress, irgendeiner Opferrolle oder sogar hinter vermeintlich selbstlosen Motiven verstecken. Sind sie erst hübsch verpackt kommuniziert, werden sie im Anschluss zur persönlichen Wahrheit, und dann zur persönlichen Realität, die das dahinterstehende egoistische Motiv – das heimliche, permanente Vornanstellen des eigenen, kleinen Willens um jeden Preis – dahinter schnell vergessen lässt. Ist doch halb so wild, oder? Macht doch jeder so!

„Den eigenen Willen zu erkennen erfordert Kontakt zu sich selbst.“

So sagt man. Und das stimmt auch! Es ist überlebenswichtig für den Einzelnen, dass man in wichtigen Situationen in sich spürt, ob das was hier passiert gut für einen ist, oder ob es ein Entgegenstellen des persönlichen Willens, Wunsches oder Bedürfnisses zum positiven persönlichen Fortkommen erfordert!

Aber wo ist die Grenze dieses ganz persönlichen Willens? Wann ist auch mal etwas anderes wichtiger, wie zB. das positive Vorankommen einer Sache oder Gruppe (deren Teil der Einzelne ja auch ist), wie zB. das Einhalten von Anstand und Moral (auf die sich der Einzelne bei den anderen ja auch verlässt), wie zB. eine Beziehung (die der Einzelnen ja auch immer wieder sucht und braucht)?

Sagt uns „Kontakt zu uns selbst“ in der Alltagsrealität, wenn wir ehrlich sind, nicht doch eher, dass es zunächst erst mal richtig und wichtig ist, dass man selbst weniger machen muss, weniger Aufwand hat, weniger zahlen muss, mehr Zeit für sich hat usw.?

Wir Menschen bewegen uns auf zwei Arten im Leben fort. Wir sind Individuum und wir sind immer auch Teil irgendeiner Art von sozialen Gruppe – ob wir wollen oder nicht. Hier steht der individuelle Wille, das bestmögliche Fortkommen des Einzelnen, dem Interesse des Verbundes gegenüber.

Sollten die persönlichen Interessen des Einzelnen innerhalb eines Verbundes (hier sind auch Zweierbeziehungen gemeint) bei der jeweiligen Entscheidung selbst auch dann immer diese Form der Berücksichtigung finden, wenn alleine dadurch das positive Vorankommen des Verbundes offensichtlich boykottiert wird, oder wenn dadurch nur (wenn auch gut getarnte aber dennoch) kleingeistige Individualinteressen des Einzelnen, wie Bequemlichkeit, Feigheit, Geiz oder persönliche Eitelkeit allem anderen voranstellt werden?

Sollte der seinen persönlichen Willen immer allem voranstellende Einzelne sich in solchen Fällen nicht eigentlich schon von sich aus aus solchen sozialen Verbünden zurückziehen, anstatt immer weiter eine so schädigende Belastung für sie zu sein, und das nur, um zeitgleich noch davon zu profitieren, das er auch weiterhin Teil eines sozialen Verbundes ist?

Aber wie viel Egoismus sollte der Einzelne den anderen zumuten können? Wo liegt die Grenze des individuellen Egos bezogen auf das große Ganze?

Eine der großen Krankheiten unsere Gesellschaft ist es, meiner Meinung nach, dass wir vergessen haben, uns auch als Teil des Kollektivs, als Teil eines großen Ganzen, zu verstehen. Wir schauen nur auf uns und übersehen, dass wir als Einzelner nicht so gr0ß sind, um niemanden zu brauchen. Wir sehen nur uns und übersehen dabei die mächtigen Systeme, die völlig unabhängig von uns im Hintergrund wirken, und deren Teil wir aber sind. Wir reden uns ein, wir könnten durch gelebten Individualismus aus diesen Systemen aussteigen. Wir denken, wir hätten sie überwunden und daher gelten sie für uns nicht mehr. Wir denken, wir hätten die freie Wahl, aus dem System „Mensch sein“ auszusteigen.

„So, then try to leave the planet! Oder fang endlich an, dich nicht wie ein Pickel am Arsch der anderen zu benehmen!“

Wenn der Einzelne den Platz als Teil eines Verbundes aus freien Stücken einnimmt und von diesem sogar profitiert (in welcher Form auch immer), „unterschreibt“ er da nicht auch automatisch eine Art Sozialvertrag, dass er sich als Teil dieses Kollektivs diesem gegenüber nicht schädigend verhalten wird – und somit ja auch nicht gegenüber sich selbst, als Teil dieses sozialen Verbundes?

Ganz alleine schafft es nun mal keiner! Geht es denn dann neben dem eigenen nicht automatisch auch immer um das gemeinsame Gefühl, um das Gefühl, das die anderen mit uns haben? Sollten wir nicht unsere eigenen Interessen, unseren individuellen Willen, nicht auch mal dahingehend überprüfen, ob der für das große Ganze, was auch immer das ist, gut oder schlecht ist?

Genau das bringt uns um! Das wir uns selbst in allem wichtiger nehmen!

Dies tun wir aber in den seltensten Fällen, um unser Überleben zu sichern oder aus edlen Motiven. Wir sind doch alle von Grund auf irgendwie eitel, ängstlich, bequem oder faul. Wir sind es einfach gewohnt, zu allererst nur auf uns selbst und auf die Realisierung unserer ganz individuellen Interessen zu schauen, die dann meistens dem Ziel dienen, auch weiterhin möglichst bequem durchs Leben zu kommen! Ist doch halb so wild, oder? Macht doch jeder so!

Aber wann leidet der Einzelne mehr? Wenn er seine individuellen Interessen nicht immer wieder durchsetzen kann, oder wenn er sich nach und nach von den anderen Menschen isoliert, indem er sich selbst immer allem anderen voranstellt und damit dann alleine ist, ohne Familie, Partner oder Freunde, oder ihm vielleicht am Ende nur noch die Flucht in Drogen und Rausch als einzigem Verbündeten bleibt? Was macht den Einzelnen glücklicher? Wenn er sich alleine an seinen Interessen erfreut, oder wenn er diese Freude in Verbindung mit anderen erleben kann?

Ich denke in beiden Fällen zweiteres! Ich persönlich – obwohl ich auch ein Individuum bin mit eigenen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen – halte es für völlig unangemessen und arrogant, wie wir Menschen uns permanent über unsere eigene Unbedeutendheit erheben, indem wir unsere kleinen persönlichen Befindlich- und Eitelkeiten immer über alles andere stellen!

Leider werden die Menschen die sich nicht so verhalten in unserer Gesellschaft immer wieder ausgenutzt, für selbstverständlich oder weniger wichtig genommen, und am Ende werden sie als Individuum irgendwann gar nicht mehr wahrgenommen. Trotzdem wirken sie, wenn auch unmerklich, ausgleichend auf die soziale Gruppe deren Teil sie sind. Sie ermöglichen deren Fortkommen dadurch dass sie wissentlich mehr geben, als sie zurück bekommen, einfach weil ein solches Verhalten dem großen Ganzen in dem Moment nutzt und das andere schaden würde.

Ja was denn nun? Ich sein, oder wir sein? Ich sage beides!

Wir sollten immer in Kontakt mit unserem Selbst sein! Aber wir sollten dabei auch immer achtsam darauf schauen, dass die jeweilige Entscheidung für unser „individuelles Selbst“, unserem „sozialen Selbst“ – das wir dabei nur allzu gerne vergessen, was wir aber mindestens genauso sehr brauchen – nicht schadet.

Wenn die Entscheidung für unser individuelles Selbst unserem sozialen Selbst schadet, verlieren wir den Partner, verlieren wir Freunde oder den Kontakt zu unserer Familie oder sogar zur gesamten Gesellschaft. Und dann sind wir einfach nur noch alleine. Ist doch halb so wild, oder? Macht doch jeder so!

Wären wir Menschen schon immer, so wie heute, als „gut getarnte Egoisten“ an die Dinge herangegangen, wären wir mit Sicherheit schon vor 20.000 Jahren ausgestorben! Einfach weil wir mehr mit unserem kleinen Ego zu tun gehabt hätten, als damit, uns auch als festen Teil einer sozialen Gruppe, einer Familie, einer Beziehung oder eines anderen Kollektivs zu verstehen und zu verhalten.

Wir sind aber alle unbedingt darauf angewiesen, sozial eingebunden zu sein und geliebt zu werden. Einfach, weil wir alle eben „nur“ Menschen sind! Also sollte für uns doch auch IMMER und UNBEDINGT mindestens genauso wichtig sein, welche Folgen unser „gut getarnter Egoismus“ für das Gegenüber nach sich zieht (egal ob einer oder viele), und vor allem, welche Konsequenzen daraus für uns selbst folgen!

Sind sie positiv, kommen wir voran! Sind sie es aber nicht, ist dann das, was wir in der jeweiligen Situation für uns selbst wollen trotzdem immer noch so wichtig, und auch immer noch so richtig – vor allem wenn es nur der Befriedigung unserer kleinen, größtenteils belanglosen menschlichen Bedürfnisse dient? Ich denke nicht!

Ich denke, dass es in den meisten Fällen wichtiger und richtiger ist, die eigene Bequemlichkeit regelmäßig auch mal zu überwinden, die Komfortzone immer mal wieder zu verlassen, auf den eigenen kleinen Vorteil auch mal zu verzichten, den kleinen persönlichen Profit auch mal bewusst auszuschlagen, dem Willen des Egos auch mal nicht bedingungslos zu folgen, damit wir nicht Gefahr laufen, irgendwann an unserem Ego und unserer eigenen „Wichtigkeit“ und „Großartigkeit“ zu ersticken!

Bis wieder.
Bis bald.

posted by
Die Nachdenkerin